Das Recht zu töten

Autor: A. Reutlinger, München 2/2003

Das Recht auf Leben ist im deutschen Grundgesetz verankert (Art. 2). Moral, Ethik, Pazifismus sind vielgebrauchte Schlagworte besonders in kriegsgefährdeten Zeiten. Das Töten von Menschen durch Menschen können sie aber nicht verhindern. Es herrscht nicht einmal Einigkeit über ihre Bedeutung und ihre Geltung. Sie sind wirkungslos, weil ihnen die objektive und unveränderliche Verankerung, die Begründung a priori fehlt, so dass sie durch Traditionen und Sitten, durch subjektive Vorstellungen von Ehre und von Recht ausgehöhlt werden.

Alle Menschen sind von Natur aus gleich. Es gibt keinen erkennbaren Unterschied, der eine Höherwertigkeit oder eine Minderwertigkeit einzelner Individuen oder Gruppen begründen würde und es gibt keine Privilegierte, Ausgezeichnete oder Auserwählte. Daraus folgt unmittelbar, dass kein Mensch das Recht hat, über das Leben anderer Menschen zu verfügen, also insbesondere zu töten oder töten zu lassen. Ebenso kann es kein Recht geben zu Vergewaltigung, Folter und Zwangssterilisation. Darüber herrscht noch weitgehend Einigkeit. Dieses ethische Prinzip gilt aber bedingungslos, auch im Falle der Notwehr oder Verteidigung. Hier scheiden sich die Geister.

Historisch betrachtet haben immer wieder mittelalterliche Kleriker und Fürsten, moderne Machthaber wie auch demokratisch legitimierte Staatenlenker die Notwehr als Recht zur Tötung betrachtet und sie sehr häufig dazu missbraucht. Das biblisch-christliche "du sollst nicht töten" hat selbst gläubige Christen nicht davon abgehalten. Noch heute gibt es Todesstrafe, Schießbefehl und finalen Rettungsschuss in Gesetzbüchern.

Es ist streng zu unterscheiden zwischen dem präaktiven Recht auf eine Handlung und der postaktiven Toleranz einer Handlung. Tötung kann nie ein Recht sein. Sie kann nur im Einzelfall nachträglich toleriert werden, indem die Gesellschaft auf Sanktionen verzichtet, wenn beispielsweise im Verlauf einer Handlung ein Mensch unvermeidlich getötet wurde, um Menschenleben zu retten. Es geht nicht um die Verhältnismäßigkeit der Mittel, sondern um einen unumstößlichen Grundsatz. Der Umfang der Toleranz darf daher nur im äußersten Fall a priori - d.h. gesetzlich - bestimmt werden, denn gerade dadurch würde der Willkür die Türe geöffnet.

Todesstrafe kann nie Recht sein. Auch die Androhung des Todes kann nie Recht sein. Geplante Tötung von Menschen darf in keinem Fall toleriert oder legitimiert werden. Weder das Individuum, noch der Staat oder andere Institutionen haben dazu das Recht. Die Menschheit kann sich intelligentere Wege zur Konfliktbewältigung ausdenken. Das ist eine Frage des von Erziehung und Bildung geformten Bewusstseins, weshalb nur in einer allmählichen Veränderung der globalisierten öffentlichen Meinung als kollektivem Bewusstsein der Schlüssel zur dauerhaften Befriedung der Welt liegen kann. Dadurch wird das Töten sicher nicht vollständig verhindert, aber jeder Einzelne, der tötet, sollte sich dafür verantworten müssen und darf nicht - von Gleichgesinnten - öffentlich als Held gefeiert werden. Töten ist nicht Heldentum, sondern Feigheit vor dem Leben des Mitmenschen. Wenn Tötung auch nur in Ausnahmefällen zum Recht erklärt wird, dann wird man Terror, Mord und Krieg nicht ausrotten können; dann genügt schon Antipathie um individuelles oder staatliches Töten zu rechtfertigen.

Auch die Beschaffung von Waffen macht nur Sinn, wenn Töten erlaubt ist - so schließt sich der Teufelskreis! Der Verzicht auf Waffen, bzw. Abrüstung, wird mit dem Recht zur eigenen Verteidigung oder dem Hinweis auf die Verantwortung für die Sicherheit und Verteidigung der Gesellschaft abgelehnt, ohne zu bedenken, dass dieselben Waffen für die Angriffe genutzt werden, gegen die man sich verteidigen will; wirtschaftliche oder andere Argumente seien nicht vergessen. Alternativen werden gar nicht erst erwogen, geschweige denn erprobt. Es ist höchst befremdlich, dass es bislang für die Polizei keine Waffen gibt, die nicht tödlich wirken und dass es bis heute keine lebensbewahrende Strategie gibt, Tyrannen das Handwerk zu legen, obwohl es mit Hilfe der modernen, global verfügbaren Technologien der Kommunikation und des Verkehrs Möglichkeiten dazu gäbe.

Nur Menschen, die sich selbst als Auserwählte betrachten, glauben das Recht zu haben, über das Leben anderer Menschen nach ihrem Belieben verfügen zu können. Das sind besonders diejenigen, die in einer Gruppe oder Gesellschaft das Sagen haben. Sie gewinnen ihre Anhänger und Mitläufer, indem sie diese glauben lassen, Mitglied im Zirkel der Auserwählten zu sein - wer möchte das nicht. Das Ergebnis ist Autokratismus, Faschismus, Militarismus, Imperialismus, Terrorismus mit den täglich zu hörenden, phrasenhaften Selbstrechtfertigungen und Tarnungen wie Sicherheit und Schutz oder Verteidigung und Verantwortung, die zudem, um Begründungen und Kritik zu umgehen und um psychischen Druck auszuüben, zu diffusen Begriffen wie Moral, Ehre, Tapferkeit, Patriotismus oder Solidarität verklärt werden; oft genug mit Erfolg auch bei sonst intelligenten Menschen.

Tötung von Artgenossen ist in der Tierwelt sehr selten, selbst Verletzungen und Blutvergießen bei Rang- und Revierkämpfen sind die Ausnahme. Warum dann töten Menschen Menschen? - Schuld daran ist mit Sicherheit das Bewusstsein, in dem das genetische Erbe der Tierwelt übersetzt wird in den Kampf um Wohlstand, Anerkennung und Macht in der Gesellschaft. Kommunikation zwischen Artgenossen und Selbstbewusstsein bilden zusammen einen zirkulären Wirkungszusammenhang, der zu einer endlosen Spirale führen kann. Mehr Macht und Anerkennung erzwingen und rechtfertigen vermeintlich mehr Kampf und sogar der Kampf an sich wird zum Imponiergehabe heroisiert - vornehmlich von den Teilnehmern selbst und den Nutznießern! Die Möglichkeit des Ausgleichs körperlicher Unterlegenheit durch externe Waffen macht das genetische Erbe zur Ursache grenzenloser Aufrüstung. Es gibt keine begrenzende Rückkopplung außer Vernunft, die aber nicht angeboren, sondern ein durch Lernen und Erfahrung erworbenes Phänomen des individuellen Bewusstseins ist.

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